Dass der Theologe Jürgen Moltmann 98jährig verstorben ist, war sogar der Tagesschau eine Nachricht wert, und nahezu jede kirchliche und theologische Publikation würdigte ihn und seine Theologie mit einem Nachruf.
Den vielleicht spannendsten Nachruf fand ich kürzlich im Newsletter des Instituts zur Erforschung von Mission und Kirche (IMK), weil dort Prof. Dr. Michael Herbst
nicht so sehr das Lebenswerk des Theologen und seine großen Klassiker in den Blick nahm, sondern ein kleines Buch aus dem Jahr 2019. Herbst schreibt: „Wenn auch hier an ihn erinnert werden soll, dann wegen einer weniger oft beachteten Spur seines theologischen Denkens. Spät hat Moltmann noch ein kleines Buch veröffentlicht, in dem er seine Gedanken über die christliche Gemeinde zusammenfasste: Christliche Erneuerungen in schwierigen Zeiten (München 2019)“ und geht dann vor allem auf Moltmanns Gedanken zur christlichen Gemeinde und ihrer Gegenwart und Zukunft ein.
Mich hat sein Hinweis so motiviert, dass ich mir das Buch gleich aus der Bibliotheks- und Medienzentrale geholt, es direkt gelesen und mich dann an diesen Buchtipp gesetzt habe.
Die 126 Seiten des Buches sind vielleicht ein bisschen knapp für eine Urlaubslektüre, aber das Buch ist zumindest recht handlich und passt somit in jede Strandtasche. Außerdem liest es sich für das Werk eines systematischen Theologen sehr leicht und flüssig, wenn man nicht den vielen Fäden folgt, die einen mit Fußnoten oder schlichten Erwähnungen in die Tiefe der Theologiegeschichte führen.
Überhaupt ist dieses Buch in gewisser Weise eine Theologiegeschichte in Kurzform. Zum einen, weil hier ein Zeitzeuge spricht, der die Zeit vor, im und nach dem Zweiten Weltkrieg und bis in die Gegenwart überblickt und zum anderen, weil er viele Gedanken durch die Zeit von biblischer Theologie über Reformation und Aufklärung über die Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart verfolgt. Das ist natürlich dem Umstand geschuldet, dass er sein Buch im Anschluss an das Reformationsjubiläum 2017 schreibt und er hier Vorträge anlässlich dieses Jubiläums sammelt. Gleich mit der Überschrift des ersten Kapitels bezeichnet er die Reformation als unvollendet, und natürlich hat er schon eine Idee, wie wir die Reformation vollenden könnten – und die stellt er im Laufe des Buches immer klarer vor Augen.
Das Buch ist ökologisch und ökumenisch, bibelorientiert und kritisch im Denken, voller Kirchengeschichte und Kirchengeschichten und immer mit einer festen Überzeugung und dem Erfahrungsschatz eines Kirchen-Lehrers geschrieben.
„Ein Streit kann mehr Wahrheit enthalten als ein toleranter Dialog!“
Man kann nicht immer allem zustimmen, aber das will Moltmann auch gar nicht. Er fordert vielmehr eine theologische Streitkultur ein, denn: „Ein Streit kann mehr Wahrheit enthalten als ein toleranter Dialog!“ (S. 16), was bei ihm gleich in eine Kritik der (damals) aktuellen Talkshow-Landschaft mündet.
Doch wer vermutet, dass hier ein alter weis(s)er Mann davon erzählt, wie früher alles besser war, wird überrascht von modernen Ideen und erkannten Herausforderungen, die man einem (damals) 92jährigen nicht unbedingt zutraut.
„Denke global – handle lokal –
was du nicht lokal an deinem Ort tun kannst, sollst du auch nicht global von der Kirche erwarten.“
Dadurch wird das Buch vor allem in seinem Gemeinde-Kapitel zu einer reizvollen Lektüre für Kirchenpionierinnen und Liebhaber der Ortskirchengemeinde (Zitat: „Denke global – handle lokal – was du nicht lokal an deinem Ort tun kannst, sollst du auch nicht global von der Kirche erwarten.“ S. 68), die aber nicht die (notwendige) Kritik an Parochialität und Versorgungskirche ausspart. „Das ist die Betreuungskirche zu der man »gehört« […]. Geht man zur Kirche, wird man ein »Gottesdienstbesucher genannt – so als wären wir in der Kirche nicht zu Hause, sondern nur »auf Besuch«; geht man zum Abendmahl, wird man als Abendmahlsgast gezählt, so, als gehöre man nicht zur Familie Jesu, sondern wäre nur »zu Gast« (S. 69). Demgegenüber sieht er eine lebendige und mündige Gemeinde, in der „was nicht durch die Gemeindeglieder selbst geschieht, nicht geschieht!“ S. 73.
Das ist die Betreuungskirche zu der man »gehört« […]. Geht man zur Kirche, wird man ein »Gottesdienstbesucher genannt – so als wären wir in der Kirche nicht zu Hause, sondern nur »auf Besuch«; geht man zum Abendmahl, wird man als Abendmahlsgast gezählt, so, als gehöre man nicht zur Familie Jesu, sondern wäre nur »zu Gast«
Vieles klingt, wenn man davon hört, utopisch, wie schöne ökologisch-ökumenische Gedanken zu einer Zukunft der Welt und der Kirche, deren Realitätwerdung wir nicht erleben werden. Wer es bei Moltmann liest, wird dabei aber immer wieder auf den Boden der Tatsachen geholt und gerade mit der Kritik an aller Utopie und Apokalyptik konfrontiert.
Ein Buch also, das sich zu lesen lohnt, weil es aus den alten Geschichten aus Bibel, Theologie und der Lebens- und Glaubenserfahrung eines 92jährigen neue Impulse für die Gegenwart und Zukunft der Kirche zieht, die es zu bedenken lohnt.
Oder, wie er es im Vorwort formuliert:
„Die Freude des Glaubens lässt uns die Möglichkeiten zu Reformen erkennen und das Gottvertrauen lässt uns sie ergreifen!“
Ich habe die Stunden bei der Lektüre des Buches sehr genossen und bin gespannt, welche Früchte aus den Ideen und Erkenntnissen wachsen werden.
Allen, die die Lekttüre noch vor sich haben, wünsche ich jetzt schon viel Freude und grüße herzlich in ORA und Labora!
Jürgen Moltmann
„Christliche Erneuerung in schwierigen Zeiten“ Claudius Verlag, München 2019.
ISBN: 9783532628317
126 Seiten
Hardcover:16,00 €
oder zum Ausleihen in der Bibliothek und Medienzentrale
(https://kirchenbibliothek.de).
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